Angelika Petershagen Frau eines Greifswalder Stadtkommandant

Rudolf Petershagen war der legendäre Greifswalder Stadtkommandant, der am 30. April 1945 mit der kampflosen Übergabe an die Sowjetarmee die Stadt vor der Zerstörung bewahrte und 1969 dort starb. Weniger bekannt ist die Rolle seiner Ehefrau Angelika, die danach bis zu ihrem Tode 1995 in der Stadt wohnen blieb. 1981 veröffentlichte sie im Verlag der Nation ihre Memoiren. Unser damals bei diesem Verlag tätige Autor gibt einen Überblick über ihren ungewöhnlichen Lebenslauf.

Als beim Stadtkommandanten von Greifswald, Oberst Petershagen, im April 1945 der Entschluss reifte, die Stadt kampflos an die sowjetischen Truppen zu übergeben, war ihm bewusst, dass es dazu Verbündete brauchte - und die Zustimmung seiner eigenen Frau.

War es ihm aufgrund seiner militärischen Laufbahn schon schwierig genug, mit den Traditionen von Treue, Pflicht und Gehorsam zu brechen, so galt dies umso mehr für seine Frau. Aus hochrangigen Adelsfamilien stammend (geboren am 2. September 1909), waren in ihr die genannten preußischen Tugenden tief verwurzelt. Der Großvater väterlicherseits war Generalfeldmarschall, der mütterlicherseits Generaloberst und beide aufgrund ihrer adligen Herkunft „Generaladjutanten seiner Majestät des Kaisers".

Doch damit nicht genug. Hinter ihrem Dienstgrad führten sie die Bezeichnung „a la suite" des 1. Garderegiments zu Fuß. Es war das Vornehmste vom Vornehmen - seine Majestät der Kaiser und König der Regimentschef. So brachte es die Nähe des kaiserlichen Hofes mit sich, dass Enkelin Angelika wie auch ihr Bruder Gespielen des Kronprinzen im Schlosspark von Bellevue wurden. Diese Kindheitserinnerungen blieben lange in ihr haften.

Mit diesen adligen Vorgaben ausgestattet, gelangte auch ihr Vater, Karl-Olaf von Lindequist, in das 1. Garderegiment und über dieses in den Generalstab. Deutschlands Niederlage im ersten Weltkrieg 1918 beendete seine Karriere. Als Major schied er aus dem Militärdienst aus. Seine guten Beziehungen verhalfen ihm zur Stellung als Personalchef bei der Dresdner Bank in Stettin. In dieser Zeit erbte er das Gut Woitzel im damaligen Kreis Rügenwalde, unweit von Stettin. Insbesondere die Mutter konnte sich nun mit ihrer ganzen Vitalität für die Verwirklichung standesgemäßen Lebens zuwenden.

In Woitzel und später in der Zeit am Potsdamer Lyzeum lebte Angelika fest eingebunden in ihrer aristokratischen Welt. Ebenso selbstverständlich wurde erwartet, in ihren Kreisen zu heiraten. Einen Beruf zu ergreifen, wie sie es wollte, erschien völlig überflüssig. Doch mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit setzte sie es schließlich durch, eine private Kunstschule in Berlin zu besuchen. Und hier zeigte sie überraschend Talent. Ihre Muster für Stoffe und handgewebte Schals wurden sogar von holländischen Firmen angekauft.

Entgegen allen Erwartungen von Eltern und adliger Verwandtschaft heiratete Angelika von Lindequist im Frühjahr 1935 in Potsdam den aus bürgerlichen Kreisen stammenden Oberleutnant Rudolf Petershagen. Kennen gelernt hatten sich beide durch ihren Bruder Ulle, der gemeinsam mit Petershagen im Potsdamer Infanterieregiment Nr. 9 diente. Es war das Nachfolgeregiment des hochherrschaftlichen 1. Garderegiments zu Fuß aus Kaisers Zeiten. Aber auch jetzt dienten dort vorwiegend Adlige.

Die Trauung fand standesgemäß in der Garnisonkirche statt, die Hochzeitsfeier im Offizierskasino des Regiments. Von nun an begann für Angelika Petershagen das Leben einer Offiziersfrau mit den üblichen Verpflichtungen. Nach einer Zwischenstation in Brandenburg wurde ihr Mann 1937 zugleich mit der Beförderung zum Hauptmann als Kompaniechef in das Infanterieregiment 92 nach Greifswald versetzt.

Für Angelika Petershagen als Offiziersfrau bestand der wesentliche Ärger darin, dass an den Offiziershäusern hinsichtlich des Komforts arg geknausert wurde. Als dann die Häuser fertig waren, richteten sich Petershagens nicht nur wohnlich ein, sondern gestalteten zur Verwunderung anderer Offiziere - man war als Offizier meist nur 4 bis 5 Jahre am gleichen Ort - den Garten und pflanzten Bäume. Es war seine Idee, in Greifswald Wurzeln zu schlagen. Als es dann im Frühjahr und Sommer 1939 außerplanmäßige Beförderung gab - Petershagen wurde Major - gab es keinen Zweifel mehr. Die Mobilmachung war in vollem Umfang angelaufen.

In den ersten „erfolgreichen Jahren" nach Kriegsbeginn gehörte Major Petershagen zum Stab der Ersatzdivision in Stettin. Frau Angelika war es nachgerade unangenehm, dass ihr Mann nicht zu den nach den ersten Feldzügen heimkehrenden Siegern gehörte. Als ihr Mann dann doch nach Frankreich versetzt wurde, unterzog sie sich der patriotischen Pflicht und meldete sich zum Rot-Kreuz-Dienst. Nach dem Frankreich-Feldzug lag das Greifswalder Regiment an verschiedenen Standorten in Deutschland. Der Krieg schien erträglich. Dies alles änderte sich schlagartig mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Nun war auch ihr Mann voll in den Krieg einbezogen. Für gute Truppenführung in der Schlacht um Charkow erhielt Petershagen das Ritterkreuz, wurde Oberst und Kommandeur des Greifswalder Regiments, das im Herbst 1942 bis nach Stalingrad kam.

Während des Genesungsurlaubs nach einer Verwundung Ende September 1942 überraschte der hoch dekorierte Oberst seine Frau mit seiner in den jüngsten Monaten gewonnenen Überzeugung, dass die Einnahme von Stalingrad noch lange ausbleiben werde, ja, dass dieser Krieg gegen Russland überhaupt nicht zu gewinnen sei. Für Frau Angelika war diese Offenbarung im Hinblick auf ihre bisherige patriotische Einstellung geradezu ein Schock. Die Verwundung heilte schneller als erwartet. Ihr Mann wurde nach Stalingrad zurückgeflogen. Während dieses Aufenthaltes hatte der Oberst seine Frau noch um die Übernahme einer sehr schwierigen Aufgabe gebeten. Er würde ihr die Todesnachrichten von Angehörigen seines Regiments in Greifswald übersenden und sie bitten, diese den Angehörigen zu überbringen. Mit dieser Aufgabe wurde sie mit der letzten Konsequenz des Kriegsgeschehens konfrontiert.

Der Aufenthalt in Stalingrad dauerte nicht lange. Ende November 1942 wurde Oberst Petershagen schwer verwundet und traf wenig später wieder in Greifswald ein. Seine Genesung erstreckte sich über Monate. Er war nicht mehr frontdiensttauglich. Am 1. Januar 1945 wurde er Stadtkommandant von Greifswald. In den folgenden Wochen und Monaten reifte in ihm der Entschluss, die Stadt kampflos an die sowjetischen Truppen zu übergeben, was am 30. April 1945 erfolgte.

Die Ehe zwischen Angelika von Lindequist und Rudolf Petershagen war über die damaligen gesellschaftlichen Grenzen hinweg von tiefer Zuneigung und ebensolchem Vertrauen getragen. So folgte und billigte sie seinen Entschluss zur Übergabe der Stadt, nahm an den konspirativen Besprechungen mit den Universitätsprofessoren Dr. Engel und Dr. Katsch teil und war ihm nicht zuletzt auch eine psychologische Stütze. Hätte Petershagen die Übergabe der Stadt politisch motiviert, als Gegner Hitlers und des Regimes, wäre ihm der Weg in die Gefangenschaft erspart geblieben. Er aber begründete seine Entscheidung mit rein militärischer und humanitärer Überzeugung. Zum Abschied trug er seiner Frau auf, komme was wolle in Greifswald zu bleiben. Von nun an begann für sie wie für Millionen von Frauen das Bangen um die Rückkehr ihrer Männer aus der Gefangenschaft.

Das Verhalten des größten Teiles der deutschen Bevölkerung gegenüber den Angehörigen der Sieger- und nunmehrigen Besatzungsmacht war von großem Misstrauen geprägt. Auch Angelika Petershagen war davon nicht frei. Doch die erste positive Überraschung erfolgte schnell. Ein sowjetischer Oberst stellte ihr aufgrund der Verdienste ihres Mannes einen „Schutzbrief“ aus. Nach und nach entstand bei ihr eine sachliche Einstellung zur neuen „Obrigkeit". Das bewog manche Greifswalder, sie um Rat und Unterstützung bei Vorkommnissen und Problemen zu bitten, mit deren Lösung sie jedoch zumeist überfordert war. Dort, wo sie persönlich helfen konnte, tat sie ihr Möglichstes. Zeitweilig beherbergte sie bis zu acht Frauen, die Hilfe suchend zu ihr gekommen waren.

Wenig später trafen ihre Mutter, ihre Tante und die Schwägerin mit vier Kindern als Flüchtlinge vom Gut Woitzel ein. Auch sie mussten untergebracht werden. Es begann die schwierige Zeit, das Lebensnotwendige zu besorgen, um zu überleben. Ihre Wohnung wurde zur Durchzugsstation für noch immer ankommende Flüchtlinge in Richtung Westen. Zeitweilig war es das reinste Adelsnest. Um dies alles auch wirtschaftlich bewältigen zu können, richtete sie ihre Wohnung als Pension ein.

Im Herbst 1948 kehrte Rudolf Petershagen aus der Gefangenschaft nach Greifswald zurück. Er hatte sich viel mit Politik befasst und insofern keine Illusionen über die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, die er vorfinden würde. Gewillt, an einem Neubeginn des Landes mitzuwirken, trat er der National-Demokratischen Partei Deutschland bei, qualifizierte sich durch ein Studium an der Verwaltungsakademie Forst Zinna und wurde Kreisrat in Ahlbeck. Im Zusammenhang mit den Anfang der fünfziger Jahre erfolgten Bemühungen, die Teilung Deutschlands durch Kontakte zu überwinden, reiste Petershagen zu Gesprächen nach München.

Als alle Versuche, Petershagen zur Übersiedlung in die Bundesrepublik zu bewegen fehlschlugen, wurde er aus fadenscheinigen Gründen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Inzwischen aber begann zwischen Angelika Petershagen und ihrer noch immer feudal dominierenden Mutter ein wahres Familiendrama. Die Mutter von Lindequist, fest in ihrer aristokratischen Welt verankert, war bereits einige Zeit zuvor nach Westberlin übergesiedelt. Über sie versuchten nun amerikanischen Dienststellen Einfluss zu nehmen, Petershagen zum Verbleiben in der Bundesrepublik zu bewegen.

Mit der erfundenen Behauptung, ihr Mann sei krank und würde im Westen bleiben, forderte sie ihre Tochter auf, unverzüglich zu packen und zu ihr zu kommen. Als diese darauf nicht einging, fuhr die energische alte Dame kurz entschlossen nach Greifswald, packte selbst das Nötigste zusammen und bewog letztlich ihre Tochter doch nach Westberlin mitzukommen. In Westberlin war Angelika voll Zweifel und Ungewissheit, verweigerte jedoch jegliche Erklärungen irgendwelcher Art, immer in Erinnerung an seine Worte, sie möge Greifswald niemals verlassen. Doch dann traf in verschlüsselter Form seine Nachricht ein, die alle Unterstellungen als unwahr erkennen ließen. Kurz entschlossen reiste sie mit allem Gepäck wieder nach Greifswald zurück. Im Oktober 1955 wurde Petershagen aus der Haft entlassen.

In sein Greifswald zurückgekehrt, wurde der Retter der Stadt herzlich willkommen geheißen und hoch geehrt. Nachdem seine Memoiren „Gewissen in Aufruhr" erschienen waren und dann auch mehrteilig im Fernsehen gesendet wurden, war er eine gefragte Persönlichkeit in weit über hundert Veranstaltungen im In- und Ausland. Angelika begleitete ihn auf all diesen Reisen. Nach den Jahren des Krieges, von zwei Gefangenschaften und der Not der Nachkriegsjahre, war die nunmehr angebrochene Zeit die eines erfüllten glücklichen gemeinsamen Lebens. Ihr Mann starb am 13. April 1969.

Für Angelika Petershagen wäre es nunmehr noch immer ein Leichtes gewesen, nach Westdeutschland überzusiedeln und dort eine hohe Pension entgegen zu nehmen. Es fehlte auch nicht an gut gemeinten Ratschlägen ihrer adligen Verwandtschaft. Doch sie blieb getreu dem Vermächtnis ihres Mannes und ihrer eigenen Überzeugung in der Hanse- und Universitätsstadt. Sie wurde Stadtverordnete und bemühte sich, die Probleme der Zeit mit lösen zu helfen. Als der Zerfall der historischen Altstadt immer offensichtlicher wurde, schrieb sie mit der ihr eigenen Courage am 27.11.1985 einen Brief an den Vorsitzenden des Staatsrates, Erich Honecker. Darin beklagte sie sich bitter, dass die durch die Tat ihres Mannes 1945 unversehrt gebliebene Stadt nunmehr auf andere Weise dem Verfall preisgegeben sei.

Angelika Petershagen starb am 19.12.1995. Auch ihr gebührt, wie ihrem Mann, ein Ehrenplatz in der Greifswalder Stadtgeschichte.

Text: Hans-Otto Lecht
(aus Greifswald KOMPAKT, Ausgaben 10 und 11/2006)

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