Greifswalder Schulzeit um 1940

Das Greifswalder Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium (Foto: Adrian Bueckling) Das Greifswalder Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium (Foto: Adrian Bueckling)

Der Verfasser dieser Zeilen, 1924 in Greifswald geboren, in Wolgast beheimatet, sollte „Lateiner“ werden, was am Wolgaster Gymnasium nicht möglich war. So bestimmte es gegen den damaligen Willen des Betroffenen der Vater. Die Umschulung erfolgte 1937 vom Wolgaster Realprogymnasium auf das Greifswalder altsprachliche Gymnasium, dessen Gründungsjahr mit 1561 angenommen wird. Namenspatron der Schule war seit 1937 der Altturnvater der Berliner Hasenheide Friedrich Ludwig Jahn.

Mit der Umschulung begann ein wenig ersprießliches Fahrschülerdasein in rumpelnden Altwaggons auf Nebenstrecken der Deutschen Reichsbahn. Es war nicht leicht, sich als Fahrschüler aus dem kleinstädtischen Wolgast im urbanen Greifswald zurechtzufinden. Ein Greifswalder Lehrer hatte den neuen Umschüler lange Zeit nur als „Neuling“ angesprochen. Der Neuling, der in Greifswald gelegentlich das Kleinstadt-Vorurteil zu spüren bekam, reagierte zuweilen provokativ, indem er die ungezogene, beinahe bösartige Fama aufwärmte, dass die Abteilfenster von D-Zügen während der kurzen Aufenthalte im provinziell anmutenden Bahnhof in Greifswald geschlossen bleiben mussten, um zu verhindern, dass Reisenden durch offene Fenster der Doktorhut aufgestülpt wird.

Eine Stunde Arrest für 'ungezogenes Brummen' (Faksimile: Adrian Bueckling)In der Schule ging es hierarchisch und notenbetont zu. Ungebührliches Benehmen wurde durch Arreststrafen geahndet, deren Vollzug allerdings zu fröhlichen Ausgelassenheiten Anlass gab. Wie hieß es dazu im Schreiben des Klassenlehrers an die Eltern: Ihr Sohn Adrian wird mit 1 Stunde Arrest bestraft, weil er sich an einem groben Unfug (ungezogenes Brummen) beteiligt hat (siehe Faksimile).
Letztlich war es eine Schulzeit, an die man, nachdem sie überstanden war, allemal dankbar, auch wehmütig zurückdenkt.

Schule im Dritten Reich
Es war eine Schulzeit im Dritten Reich. Das damalige Regime war im Schulalltag immer und überall präsent, u. a. durch Uniformen des DJ (Deutsches Jungvolk), der HJ (Hitler-Jugend) und MHJ (Marine-Hitler-Jugend), die Einheitstracht der JM (Jung-Mädel) und des BDM (Bund Deutscher Mädchen, im Jargon: Bald Deutsche Mutter), ferner durch Führerschnüre, Aufmärsche, permanente staatspolitische Feier- und Weihetage, tägliche Kernsprüche bei Unterrichtsbeginn (nach Machart: „Deutsch sein, heißt treu sein“), Appelle mit Flaggenhissungen, Deutschem Gruß und Absingen der Nationalhymnen, Ernteeinsätze, Staatsjugendtage an Samstagen: Statt Schule „Dienst“ in den Jugendorganisationen oder aber für Schüler, die keiner solchen Organisation angehörten, schulischer NS-„Nachhilfeunterricht“.

Der NS-Geist konnte sich allenthalben Einfluss und Achtung heischend Geltung verschaffen; allerdings hatte er in Greifswald die alten schulischen Strukturen und das humanistische Bildungsgut - meinen Beobachtungen zufolge - jedenfalls damals noch nicht vollends überwuchert, wiewohl die damaligen schulpolitischen Tendenzen gegen humanistische Gymnasien auch in Greifswald durchaus spürbar gewesen waren.

Diese Entwicklung, die im Bildungsbereich vereinzelt relativ politikfreie Nischen zuließ, dürfte vorwiegend darauf zurückzuführen sein, dass der Lehrkörper, der sich nach Helge Matthiesen (Das Friedrich Ludwig Jahn Gymnasium, Greifswald 2000, S.42) nur zu rund einem Drittel der Partei angeschlossen hatte, seine Ausbildung und schulische Prägung großenteils noch der Kaiserzeit vor dem I. Weltkrieg verdankte. Dass viele Dinge de facto, wie Matthiesen (a.a.O, S.41) meint, geblieben sind, wie sie waren, und die NSDAP über formale Mitgliedschaften und missmutiges Mitmarschieren nicht hinauskam, erscheint vielleicht doch als eine vom Wunschdenken beflügelte Feststellung.
Für die Jahrgänge ab 1922 bis ca. 1927/28 endete die Schulzeit dann kriegsbedingt vielfach vorzeitig mit der Einberufung zum Arbeits- und/oder Wehrdienst - ein für frühere Schülergenerationen unvorstellbarer Vorgang.

Die Lehrer
Die Lehrerschaft hatte es in damaliger Zeit nicht leicht, weder mit den Schülern, noch mit sich selbst. Befürworter und Gegner des Regimes, Parteigenossen und Nicht-Parteigenossen, politische Anpasser und Aufpasser erzeugten im Lehrerkollegium Spannungen, schürten Argwohn und Misstrauen, auch Ängste vor Denunziationen.
Die Schüler hatten großenteils eine Witterung dafür, was sich hinter Parteiabzeichen am Revers der Lehrer, hinter Mienenspielen, Bekenntnissen und tarnenden Generalklauseln verbarg. Sie, unsere Lehrer, leben heute alle nicht mehr, deshalb soll hier Einzelheiten nur spurenweise nachgegangen werden und dies auch nur unter dem Gesichtspunkt des „nil, nisi bene“.

Da ist unser Deutschlehrer Dr. Oeckel zu nennen. Auf dem Höhepunkt deutscher Kriegserfolge in Russland (1941) hatte er uns einen häuslichen Aufsatz mit dem (inhaltlichen) Thema aufgegeben: Frankreichs Feldzug gegen Russland (1812), Deutschlands Feldzug gegen Russland (1941) – „ein Vergleich“ (!), ein für den Lehrer äußerst riskantes Unternehmen. Die Parallele des Ausgangs beider Feldzüge war damals zumindest erahnbar, was aber von niemandem auch nur andeutungsweise in Erwägung gezogen werden durfte. Es war ein Aufsatzthema, das Schüler zum Nachdenken in Verschwiegenheit anregen sollte, wo die freie Äußerung von Meinungen nicht möglich war.

Unser liebenswerter Klassenlehrer Wolter trug kein Parteiabzeichen am Revers, was er vor der Klasse damit rechtfertigte, dass das Abzeichen entbehrlich sei, wenn man den neuen politischen Geist im Herzen trage. Die Mehrzahl der Schüler dürfte geahnt haben, wie solche Sentenzen zu deuten waren.
Unvergessen ist unser Lateinlehrer („Bobby“-)Beisker, der den Lateinunterricht häufig zum Anlass nahm, die edle Verkostung von Moselweinen (Wehlener Sonnenuhr), auch andere Genussfreuden, unter schwärmerischen, urigen Wohllauten zu preisen, um dann nach dem Pausenschellen selbst im Eiltempo die pensenmäßig vorgesehenen lateinischen Texte für uns zu übersetzen. Der „Staatliche Studienrat Beisker“, wie er sich selbst gerne titulierte, war ein Original: hatte er womöglich in damaliger Zeit seine Originalität bewusst in unpolitische Gefilde gelenkt, um erwarteten kritischen Schülerfragen zu entkommen?

Und wer erinnerte sich nicht an den weißhaarigen Charakterkopf unseres Geschichtslehrers Dr. Burandt, der seine kritische Einstellung zum Regime durch getarnte Wortfindungen und/oder beredtes Schweigen zum Ausdruck brachte. Eine ihm eines Tages vom Schulleiter aufgenötigte Ansprache in der Aula anlässlich eines politischen Feiertages wurde für uns zu einem unvergesslichen Schulerlebnis. Politische Feiertagsreden endeten damals in der Regel damit, dass der Redner das Ergebnis seiner Ansprache pathetisch in dreimaligen „Sieg-H e i l“-Rufen ausklingen ließ, wobei die Zuhörer jeweils in das „H e i l“ lauthals miteinstimmten. Burandt beendete seine Ansprache mit umgekehrter Wortpaarung: „Heil-S i e g“. Das löste zunächst allgemeine Verwirrung aus und ließ die Schlussapotheose letztlich in einem homerischen Gelächter untergehen, das sich noch fortsetzte, nachdem die Schüler aus der Aula im Treppenhaus nach Hause hasteten. Beruhte nun diese „Panne“ des Redners auf seinem ungewohnten Umgang mit den unliebsamen Feierriten des Regimes oder war gar dolus eventualis im Spiel, die Feier der Lächerlichkeit preiszugeben? Beides bleibt ungeklärt, aber beides offenbart eine eindeutige Gesinnung.

Es ist bewundernswert, was sich jene Lehrer, die das Regime ablehnten, alles ausdenken mussten, um Kritik „zwischen den Zeilen“ so zu formulieren, dass sie einerseits bei den Schülern verstanden werden konnte, während sie andererseits in tarnende Worte zu kleiden war, um dem Lehrer nicht zum Verhängnis zu werden. Die Nachkriegsverhältnisse, insbesondere die Spaltung Deutschlands, ließen es nicht zu, unseren Lehrern zu danken; vergessen wurden sie bei den Schülern nicht.

Literatur
Die Aufsätze in den folgenden beiden vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium hgg. Broschüren: 1.) Das Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium, Greifswald 2000; 2.) Gymnasium Friedrich Ludwig Jahn, Greifswald 1995, nebst den in diesen Schriften angegebenen Fundstellen.

Text und Foto: Adrian Bueckling
(aus Greifswald KOMPAKT, Ausgabe 6/2005)

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