Die vierjährige Anne lebt mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung im Greifswalder Stadtteil Schönwalde II. Die 20-jährige zieht ihre Tochter ohne den Kindesvater oder die Hilfe ihrer Verwandten auf. Annes Mutter ist oft in sich gekehrt und verlässt tagsüber selten das Haus, denn sie hat keinen Job und ist viel allein. Da sie einen neuen Partner sucht, geht sie abends oft weg. Anne kann dann vor Angst nicht schlafen, reißt die Tapeten von der Wand und nässt ins Bett. Damit ihr nichts passiert, ist sie in diesen Nächten immer im Schlafzimmer eingeschlossen. Nachbarn hören das Kind immer wieder schreien und machen sich Sorgen. Das Ehepaar ruft schließlich beim Greifswalder Jugendamt an und schildert seine Beobachtungen. Man habe in den Medien viel über vernachlässigte Kinder gehört und sie bekämen Mutter und Kind fast nie zu Gesicht.
Als die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes bei der jungen Frau klingeln, ist diese fast erleichtert, dass jemand kommt. Sie schildert ihnen ihre Lebenssituation, die ihr fast ausweglos erscheint. Ihre Ausbildung hat Annes Mutter wegen der Geburt und Erziehungszeit nicht beendet. Auch den Alltag mit Kind hatte sie sich viel einfacher vorgestellt. Sie liebt ihre Tochter, doch bei Annes Erziehung liegen die Nerven oft blank und sie hat Angst, grob zu werden und sich zu vergessen. Vor allem, wenn sie die anderen glücklichen Mütter mit ihren Kindern beobachtet, weiß sie gar nicht mehr, was sie richtig oder falsch macht und woher sie die Kraft für ihre Tochter nehmen soll. Nach Hilfe oder einem Kindergartenplatz zu fragen, hat sie sich nicht getraut. Ein wenig Zeit für sich selbst und dann ihr Leben endlich wieder auf die Reihe zu bekommen, das wäre ihr größter Traum. Auch wenn ihr der Schritt nicht leicht fällt, entscheidet sie sich nach vielen Gesprächen dafür, dass Anne vorübergehend in einer Pflegefamilie untergebracht werden soll, die Mutter und Tochter zuvor im Jugendamt kennen gelernt haben.
Anne lebt heute in einer der insgesamt 54 Familien, die Kinder ein Zuhause auf Zeit geben, wenn die Eltern in einer Lebenskrise stecken. Auch in Greifswald ist die Tendenz, dass Kinder vorübergehend oder dauerhaft nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können, steigend. Können Verwandte die Rolle von Mutter und Vater nicht übernehmen, so ist eine Unterbringung in einer geeigneten Pflegefamilie oftmals die beste Lösung. Deshalb sucht auch der Pflegekinderdienst des Greifswalder Jugendamtes Pflegeeltern, die bereit sind, ein Kind in das eigene familiäre Leben aufzunehmen. Eine schöne, zugleich aber auch verantwortungsvolle und weit reichende Aufgabe, denn die Kinder bringen ihre eigene Geschichte und oftmals schmerzhafte Erfahrungen mit. Viele von ihnen kennen kein richtiges Familienleben, haben Erwachsene als unzuverlässige Partner erlebt und manchmal auch Verhaltensweisen entwickelt, die für das Zusammenleben mit anderen Menschen problematisch sind.
Gerade deshalb brauchen diese Kinder und Jugendlichen besonderen Schutz und Sicherheit. So sind es auch nicht das schmucke Einfamilienheim oder der große Familienwagen, die Eltern zu geeigneten Pflegeeltern machen. Wie jeder Nachwuchs braucht auch ein Pflegekind vor allem ein Zuhause mit liebevollen, geduldigen und belastbaren Erwachsenen, die gern mit Kindern zusammenleben und es in seiner Entwicklung unterstützen. „Das Kind soll keine Sonderrolle einnehmen, sondern ein ganz normales Familienleben erfahren. Die potentiellen Pflegeeltern müssen sich bewusst sein, dass ein Pflegekind kein Adoptivkind ist und der Kontakt zu den leiblichen Eltern in den meisten Fällen bestehen bleiben soll, damit es nach seiner Zeit in der Pflegefamilie wieder in seine Familie integriert werden kann.
Wenn die Pflegeeltern der Herkunft des Pflegekindes und der Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern positiv gegenüber stehen, sind das gute Voraussetzungen, um ein Kind aufzunehmen“, so Sozialpädagogin Ulrike Trzeciok vom Greifswalder Jugendamt. „Besonders wichtig ist es uns, für jedes Kind die geeignete Familie – und nicht umgekehrt – zu suchen. Auf der Suche danach ist daher ein intensiver und individueller Austausch zwischen dem Jugendamt, den potentiellen Pflegeeltern und leiblichen Eltern sehr wichtig. Dabei setzen wir uns auch intensiv mit der Motivation der Pflegeeltern auseinander, denn ihre Vorstellungen prägen später die Erwartungen an das Kind und die neuen Lebensumstände. Wird ein Kind aus finanziellen Gründen, als Ersatz für ein leibliches Kind oder Geschwisterkind aufgenommen oder weil man es den leiblichen Eltern beweisen will, wären das denkbar schlechte Voraussetzungen für seine Entwicklung. Und nichts wäre schlimmer, als wenn ein Kind nach kurzer Zeit seine Pflegeeltern aufgrund enttäuschter Erwartungshaltungen wieder verlassen muss“, so die Sozialpädagogin.
Die zahlreichen Gespräche, Fragebögen und Hausbesuche sollten potentielle Pflegeeltern daher auch nicht als Ausdruck überflüssiger Bürokratie ansehen, sondern als eine unverzichtbare selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Thema, bevor eine endgültige Entscheidung für oder gegen die Aufnahme eines Pflegekindes getroffen wird. Auch für Anne wurde so eine geeignete Familie gefunden, in die sich die mittlerweile Fünfjährige gut eingelebt hat. Sie besucht halbtags den Kindergarten und verbringt an jedem zweiten Samstag einen schönen Tag mit ihrer Mutter, der mit Unterstützung der Pflegeeltern organisiert wird. Auch Annes Mutter kann die Stunden mit ihrer Tochter wieder genießen. Sie hat ihre abgebrochene Ausbildung fortgesetzt und hofft, danach einen guten Job zu bekommen, um mit ihrem Kind künftig ein besseres Leben führen zu können. Damit auch anderen Kindern in Notlagen geholfen werden kann, ist das Jugendamt – wie im Fall der kleinen Anne – auch dringend auf die Mithilfe von Menschen im Umfeld der betroffenen Familien angewiesen.
„Oftmals bekommen nur Nachbarn, Bekannte oder Angehörige mit, was sich in den Familien abspielt. Sie sollten nicht weghören oder lange abwarten. Es ist besser, einmal mehr als zuwenig beim Jugendamt oder über die Kinderschutz-Hotline anzurufen, als nicht zu reagieren. Hier geht es um das Wohl von Kindern, die sich nicht selbst wehren können und das geht schließlich alle an“, unterstreicht Ulrike Trzeciok. Das Jugendamt geht übrigens allen Hinweisen nach, die auf Wunsch natürlich auch vertraulich behandelt werden.
Kontakt
Universitäts- und Hansestadt Greifswald
Jugendamt/Pflegekinderdienst
Frau Trzeciok
T (0 38 34) 52 45 13
u.trzeciok@greifswald.de
Text: Sabrina Wittkopf-Schade
(aus Greifswald KOMPAKT, Ausgabe 4/2008)
Folgen auf Facebook oder Google+