Rezension: Festschrift zum Uni-Jubiläum

Der Anlauf zur zweibändigen Festschrift zum 550jährigen Jubiläum der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald hat eine Länge von zehn Jahren, wie die Herausgeber im Vorwort feststellen. Für den interessierten Leser lag die Latte der Erwartung aus mehreren Gründen hoch. Die Universität Greifswald hatte 1989/90 begonnen sich zu erneuern, alle Bereiche wurden um-, manche auch abgewälzt oder (wieder) neu aufgeladen. Damals herrschende Welt-, Staats- und Universitäts-Sichten sind inzwischen deutlich verändert. Wie würde sich diese Veränderung in einer modernen Festschrift widerspiegeln? In jedem Falle lockte (neues?) Wissen!

Die Herausgeber beziehen sich ausdrücklich auf solche Vorarbeiten wie die „Geschichte der Universität Greifswald“ von Johann G. L. Kosegarten (1856), die Festschrift zur 500-Jahrfeier (1956), die „Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637–1815“ (Ivar Seth 1956) sowie die Festschrift zur 525-Jahrfeier (1981). Als Abgrenzung und Ergänzung einigten sie sich auf ein Rahmenthema: „Wie wirkten sich gesellschaftliche und insbesondere politische Umbrüche auf die Universität Greifswald aus und wie beeinflusste zugleich die Universität die sie umgebende Gesellschaft“. Ein wahrlich anspruchsvolles Vorhaben, welches sich auch im Haupttitel der Bücher findet: UNIVERSITÄT UND GESELLSCHAFT.

Dieser „konzeptionelle Zugriff“ (Vorwort) wurde nun am Beispiel der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert im Band 1 „erprobt“. Irmfried Garbe und Martin Onnasch setzen zunächst für die Theologische Fakultät Maßstäbe. Nachvollziehbar und prägnant werden die Zusammenhänge mit der gesellschaftlichen Entwicklung – von Preußen bis zum Ende der DDR – dargestellt. Hans-Georg Knothe, Jürgen Regge und Irene Vorholz für die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät beschränken sich dagegen auf chronologieartige Darstellung mit expliziter Aufzählung wissenschaftlicher Leistungen. Sie sparen aber die Konflikte um Neubildung und Erhalt der Fakultät nach 1990 nicht aus.

Heinz-Peter Schmiedebach gelingt es, die Entwicklung der Medizinischen Fakultät bis 1945 in gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. Unter anderem am Beispiel der Forschungen über Maul- und Klauenseuche (Friedrich Löffler) und Diabetes (Gerhard Katsch) wird die nationale und internationale Bedeutung der Greifswalder Medizin präsentiert. Deutlicher als andere verweist Schmiedebach auf Aktuelles: „War zum Ende des 19. Jahrhunderts die Einflussnahme auf die Medizinische Fakultät im Zusammenhang mit wissenschafts-, gesundheits- und bevölkerungspolitischen Zielen unverkennbar, so kam am Ende des 20. Jahrhunderts eine manifeste finanzpolitische Komponente hinzu, die zunehmend an Bedeutung gewinnt.“ Leider verliert sich seine Darstellung an vielen Stellen zu sehr in Details und Einzelbeispielen.

Noch mehr erliegt Thomas Stamm-Kuhlmann für die Philosophische Fakultät dieser Gefahr. Ein großer Teil der Abhandlung befasst sich mit Strukturfragen, Personalien und Detailumständen von Berufungen als Ergebnis persönlich-politischer Intrigen. Der gesellschaftliche Bezug für die Zeit nach 1945 beschränkt sich im wesentlichen auf die Frage, dass und wie es gelang, die Fakultät zum Instrument der SED zu machen – heute eine Binsenweisheit. Die Zeit nach 1990 reduziert sich auf wenige Sätze.

Wesentlich differenzierter behandeln Lothar Kämpfe und seine Koautoren aus den einzelnen Fachrichtungen die Entwicklung der erst 1951 aus der Philosophischen Fakultät herausgelösten Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Mit Souveränität werden – ohne verengend-ausschließliche Parteifokussierung – konkrete gesellschaftliche Bezüge auch für die DDR-Zeit behandelt, wie die Auftragsforschung für die Wirtschaft, die ohne ein Minimum an Grundlagenforschung nicht möglich war. Beispiele dafür sind Mikrobiologie und Plasmaphysik. Die Abweichung vom fakultätsübergreifenden Konzept durch gesonderte Behandlung der Einzelinstitute ist durch deren große Differenziertheit nachvollziehbar. Ein besonderes Kapitel widmet sich – wohl stellvertretend für alle Fakultäten – der Lehrerausbildung.

Band 1 endet mit einer Statistik über die Entwicklung der Studentenzahlen der Universität von 1808 bis 2006. Sie bietet eine ausgezeichnete Grundlage für den Blick auf Höhen und Tiefen der Entwicklung und leitet gleichzeitig zu den allgemeinen Themen des zweiten Bandes über. Unter dem Hauptthema „Stadt – Region – Staat“ werden hier übergreifende Themen behandelt: Die Universität als Grundbesitzer, Kirchenpatron sowie Akteur vor Gericht. Dazu kommen Texte zur baulichen Entwicklung, zu Stiftungen und Ehrenpromotionen und zu Studenten aus Nordeuropa. Etwas verschämt am Ende schließt ein Artikel zur Arbeiter- und Bauernfakultät die Festschrift ab.

Der Leser fragt sich natürlich nach einer ersten Lektüre, ob die Herausgeber den langen Anlauf in entsprechende Weite umsetzen konnten. Der Maßstab war von ihnen selbst bestimmt, und der Rezensent (Student und Mitarbeiter von 1975 bis 1991) kommt zu einem sehr differenzierten Schluss. Den Autoren des ersten Bandes gelang es nur teilweise, die selbst aufgelegte Latte zu überspringen. Dem Extrem der marxistischen Sichtweise von 1981 auf die Zeit nach 1945 wurde zu oft und mit zu wenig Souveränität das andere Extrem entgegengesetzt.

Der Drang zur politischen Distanzierung bestimmte vor allem den Text über die Philosophische Fakultät. Dabei wären auch hier „neutrale“ Forschungsergebnisse zu nennen wie die zur Entwicklung des DDR-Bildungssystems, die sich über den Umweg Finnland und entsprechender Adaptation nun als PISA-Spitzenreiter präsentieren. Leider wurde auch die Gelegenheit versäumt, die Wechselwirkung von Wissenschaft und Gesellschaft anhand des Nordischen Instituts zu dokumentieren – von der Gründung 1917/18 bis 1989/90 und darüber hinaus. Dieses das Universitätsprofil in verschiedenen Fakultäten mit prägende Institut wird nur marginal erwähnt.

Weitaus mehr Bedeutung hätte auch die Zeit nach 1990 verdient, in der die Universität in einer neuen Qualität auf die Entwicklung der gesamten Stadt ausgestrahlt hat. Denn ohne Universität gäbe es weder Biotechnikum noch Max-Planck-Institut. Die beiden letzgenannten Beispiele zeigen: ein Blick aus der Gesamtperspektive der Universität wäre nützlich gewesen. Der zweite Band bietet erstmals einer breiten Öffentlichkeit und in attraktiver Aufmachung Facetten der Universitätsgeschichte, die in dieser Form zum Teil einmalig in der deutschen Geschichte sind.

Den Herausgebern gelang es, zusammen mit dem Rostocker Hinstorff Verlag die abwechslungsreiche Thematik dieser Festschrift in übersichtlicher, dem Anlass entsprechend edler Gestaltung und einem ungewöhnlichen, aber lesefreundlichen Format zu präsentieren. Zahlreiche sorgfältig ausgewählte Fotos und Abbildungen veranschaulichen die Texte. Ein überschaubarer technischer Apparat erleichtert die Benutzung.

Fazit: Die zweibändige Festschrift ist in doppelter Hinsicht ein Dokument der Zeitgeschichte. Sie präsentiert aus verschiedenen, zum Teil neuen Blickwinkeln vor allem die letzten zweihundert Jahre der Universität und ist gleichzeitig ein Abbild des gegenwärtig gängigen, noch etwas unbeholfenen Geschichtsbildes von der Zeit des „realen Sozialismus“. Sie gehört auf den Tisch eines jeden, der sich mit der Universität verbunden fühlt - und ganz besonders auf die Tische derjenigen, die mit der Zukunft der Universität spielen wollen.

Text: Dr. Rainer Höll
(aus Greifswald KOMPAKT, Ausgabe 9/2006)

Werbung

Folgen auf Facebook oder Google+

 


Firmen-Beispiel Rubrik FIRMEN-MARKT-VEREINE

Testen Sie unseren Firmen-Katalog kostenfrei

News

GRÜNE Vorpommern-Greifswald fordern mehr Engagement gegen rechte Gewalt
(Greifswald) GRÜNE Vorpommern-Greifswald: Engagement gegen rechte Gewalt muss stärker gefördert werden. Michael Steiger: Nach den jüngsten Gewalttaten der rechten Szene Solidarität und bessere Unterstützung der Betroffenen notwendig
Schließung von Amtsgerichten in Mecklenburg-Vorpommern?
(Greifswald) Auch in der Hansestadt Greifswald wie im gesamten Landkreis Vorpommern-Greifswald wird die Sparmaßnahme von Ministerin Kuder, die zu einer Schließung zahlreicher Amtsgerichte in Mecklenburg-Vorpommern führen könnte, rege diskutiert - von Einwohnern wie von Politikern, die gern an entsprechende Wahlversprechen aus dem letzten Herbst erinnern. Im Folgenden lesen Sie eine Stellungnahme des Landtagsabgeordneten Bernd Schubert (CDU).
Existenzgründer-Seminare Greifswald
In der Hansestadt Greifswald finden in Kürze wieder Seminare für Existenzgründer statt, die nach den Richtlinien des Bundeswirtschaftsministeriums förderfähig sind. Die Durchführung der Seminare in Greifswald erfolgt nicht gewerblich, da es sich als geförderte Maßnahme um eine Bildungsmaßnahme des Bundes handelt.

Veranstaltungen in Greifswald und Umgebung (Grafik: Gerd Altmann/pixelio.de)